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PÈLERINAGE DER GRUPPE AUS MURAT
Hamburg – Sandbostel – Bremen
Im Juni 1944 befinden sich die deutschen Truppen seit der
Landung alliierter Kräfte in der Normandie allenthalben in
Frankreich in der Defensive. In der zentralfranzösischen
Kleinstadt Murat hat ihnen die Résistance Verluste
zugefügt; sie müssen sich in den Nachbarort St. Flour
zurückziehen. Die Vergeltung ist fürchterlich: 25 Geiseln
werden erschossen, 107 männliche Einwohner (zwischen 16
und 60 Jahren) von Murat in das KZ Neuengamme deportiert.
Sie werden bei Bombenräumkommandos und in Außenlagern
eingesetzt, die Mehrzahl auf der Großbaustelle der
U-Boot-Werft „Valentin“ in Bremen-Farge. 75 der Männer
werden die Heimat nicht wiedersehen.
Auch 68 Jahre danach ist die mörderische Razzia der
nazistischen Besatzungsmacht in dem 2000 Einwohner
zählenden Ort nicht vergessen. Mehr als die Hälfte der
Gruppe, die sich im Juni 2012 auf die Spurensuche in
Hamburg und Bremen begibt, besteht aus Angehörigen
ehemaliger Häftlinge.
In der vorausgehenden Korrespondenz war der Wunsch
überdeutlich, neue direkte oder indirekte Lebensspuren der
Nichtheimgekehrten zu finden: Gibt es Hinweise darauf,
dass mehr als drei Männer aus Murat auf dem Friedhof in
Osterholz beigesetzt sind? Wann ist diese letzte
Ruhestätte entstanden, was weiß man von der Phase vor der
endgültigen Beisetzung? Gibt es die Möglichkeit, das
Original der Totenliste des KZ-Lagers Farge zu sehen, die
1950 aus dem Wrack der Thielbeck geborgen wurde? (Bei der
irrtümlichen Bombardierung von Schiffen in der Neustädter
Bucht durch die Royal Air Force wenige Tage vor Kriegsende
waren Tausende von KZ-Häftlingen ums Leben gekommen.) Gibt
es zeitgenössische Fotos von Außenlagern, die uns nicht
bekannt sind?
Das dreitägige Programm führt die Gruppe am 6. Juni 2012
über das ehemalige Kriegsgefangenen– und KZ-Auffanglager
Sandbostel zunächst zur Gedenkstätte ROSEN FÜR DIE OPFER
in Bremen-Blumenthal. Hier existierte von August 1944 bis
April 1945 ein KZ-Außenlager für ca. 1000 Häftlinge. Diese
wurden im Rahmen der Marinerüstung von der DESCHIMAG
(Krupp-Konzern) zur Zwangsarbeit eingesetzt. Seit November
2009 können Besucher auf dem STEIN DER HOFFNUNG, entworfen
und realisiert von Auszubildenden des Schulzentrums an der
Alwin-Lonke-Straße, die 123 Namen der hier ermordeten
Männer lesen, deren Tod in der Lagerliste verzeichnet
wurde. Nur einer der vier Blumenthaler Häftlinge aus Murat
kehrte heim.
Raymond Portefaix hat nach den Monaten seiner Zwangsarbeit
am U-Boot-Bunker in Farge ein erschütterndes Dokument
veröffentlicht (L'enfer que Dante n'avait pas prévu;
Auszüge in: R. Portefaix u.a., Hortensien in Farge).
Dieses diente den Teilnehmer der Gruppe aus Murat in
Vorbereitungstreffen als Grundlage, um sich mit dem
Bunkerbau und den mörderischen Umständen zu beschäftigen,
unter denen die Deportierten aus vielen Ländern hier den
Misshandlungen, dem Hunger, Arbeitsdruck und SS-Terror
ausgesetzt waren. Viele von ihnen sehen zum ersten Mal den
Beton-Koloss der nie vollendeten U-Boot-Werft.
Seit zwei Jahren arbeitet ein Team an der Realisierung der
nationalen Gedenkstätte „Denkort Valentin“. In
Zusammenarbeit mit der Landesarchäologin und
Auszubildenden (Bau, Architektur) der Alwin-Lonke-Straße
entsteht ein Weg durch das Außengelände.
Schüler werden unter Anleitung die Betonmischanlage auf
der Nordseite, die von Portefaix eindringlich beschrieben
wurde, freilegen; weitere Informationstafeln werden über
diese größte Baustelle Europas 1944/45 und vor allem über
das Leiden der Menschen Auskunft geben, die sich an diesem
Wahnsinns-Projekt der letzten Kriegsmonate zu Tode
schufteten.
Die Gruppe aus Murat bleibt länger, als der Ablaufplan
vorsieht. In Gesprächen wird deutlich, wie wichtig es ist,
eine Ahnung davon zu gewinnen, in welcher Umgebung und
unter welchen Umständen die Häftlinge die langen Monate
ihrer Deportation verbrachten. Eine Mitreisende würde
gerne die Photographie wieder sehen, auf der sie auf einer
vorhergehenden Fahrt ihren Onkel wiedererkannt hat;
vermutlich befindet sich das Bild auf einem Plakat der
„Baracke 27“, die heute nicht zum Programm gehört. Eine
der ältesten Teilnehmerinnen gibt zu erkennen, wie
schmerzlich es ist, bislang nicht den geringsten Hinweis
auf den Verbleib ihres Vaters gefunden zu haben; andere
wissen immerhin, dass ihr Angehöriger in einem bestimmten
Lager oder auf einem der gesunkenen Evakuierungsschiffe in
der Neustädter Bucht umgekommen ist.
Leider kann der Ruinenteil des Bunkers aus
Sicherheitsgründen nicht betreten werden; Einblicke müssen
genügen. Auf großes Interesse stößt die Ausstellung „Wie
ein Menschenfresser...“ im sanierten Innenteil des
Bunkers.
Die Ausstellung ist ausbaufähig; die Beschriftungen sind
leider ausschließlich auf Deutsch. Hier wäre mit nicht
allzu großem Aufwand Abhilfe zu schaffen (z.B. durch
laminierte Info-Blätter). Die Gruppe setzt ihre Fahrt fort
und besichtigt den Ort des zweiten U-Boot-Bunker-Projekts,
'“Hornisse“ in Bremen-Gröpelingen.
Bevor die Teilnehmer nach Hamburg zurückfahren, gedenken
sie auf dem Osterholzer Friedhof der drei Toten aus Murat,
die dort auf einem Gedenkstein verzeichnet sind. Am
07.06.12 wird das Denkmal „Murat dans la tourmente“ im
Gedenkhain in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme eingeweiht.
Mit diesem Mahnmal hat der Architekt Christian
Pichot-Duclos, Enkel eines Deportierten, eine würdige
Erinnerungsstätte entworfen, an dem auch zukünftige
Generationen der Opfer dieses Verbrechens gedenken können.
Das Mahnmal steht im Gedenkhain der KZ-Gedenkstätte
Neuengamme in Nachbarschaft zu den Denkmälern aus Putten
und Meensel-Kiezegem – drei Orte, einer in den
Niederlanden, die beiden anderen in Belgien, deren
Bewohnerinnen und Bewohner ein ähnliches Schicksal wie
jene in Murat erlitten hatten.
Mit der Einweihung des neuen Mahnmals ist auch eine
zweisprachige Ausstellung eröffnet worden, die von
Schülerinnen und Schülern des Gymnasiums Süderelbe
erarbeitetet wurde. Hier wie auch in beim „Stein der
Hoffnung“ in Bremen-Blumenthal und bei den Arbeiten am
Bunker in Bremen-Farge ist es gelungen, jungen Menschen
die Gelegenheit zu bieten, sich intensiv und eigenständig
mit dem Thema der NS-Zeit auseinanderzusetzen.
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