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Einweihung des „Ludwig-Baumann-Saals"
im Gustav-Heinemann-Bürgerhaus Vegesack am Donnerstag, 1. Sept. 2022

Im 2. Weltkrieg desertierte Ludwig Baumann 1942 mit seinem Marinekameraden Kurt Oldenburg im besetzten Frankreich. Sie wollten sich dem verbrecherischen Angriffs- und Vernichtungskrieg der deutschen Faschisten verweigern.

Von der deutschen Militärjustiz wurden sie zum Tode verurteilt. Die Strafe wurde Dank der politischen Verbindungen von Ludwig Baumanns Vater in eine 12-jährige Freiheitsstrafe umgewandelt, die aber bis zum Kriegsende ausgesetzt wurde. Von dieser Strafänderung erfuhren sie aber im Todestrakt des Gefängnisses erst Monate später.

Nach Haftzeiten im Emslandlager Esterwegen und weiteren KZ-Aufenthalten kam Ludwig Baumann in das Wehrmachtsgefängnis in Torgau / Elbe. Schliesslich musste er noch Kampfeinsätze im Strafbataillon 500 erleiden, bei denen er schliesslich 1945 in der Ostukraine schwer verwundet wurde. Das Kriegsende überlebte er im Lazarett.

Nach dem Krieg litt Baumann noch viele Jahre unter den traumatischen Erfahrungen. Seit den 80er-Jahren engagierte er sich in der Friedens- und Umweltbewegung. 1986 beteiligte sich Ludwig Baumann mit ehemaligen Bundeswehrsoldaten und Wehrdienstverweigerern bei der Aufstellung des Denkmals "Dem unbekannten Deserteur" im Gustav-Heinemann-Bürgerhaus Vegesack.

Anfang der 90er-Jahre gründete Ludwig Baumann mit anderen Mitstreitern die 'Bundesvereinigung Opfer der NS-Justiz'. Das Ziel, die Opfer der NS-Militärjustiz gesetzlich anzuerkennen und zu rehabilitieren, wurde zwar spät und mühsam, aber durch drei Gesetze in den Jahren 1998, 2002 und 2009 erreicht.

Ludwig Baumann war dem Bürgerhaus Vegesack, auch wegen des Deserteur-Mahnmals, eng verbunden. Solange er gesundheitlich dazu in der Lage war, konnte man ihn sehr häufig im Bürgerhaus bei Veranstaltungen oder in der Cafeteria antreffen. Das Bürgerhaus war für ihn ein Ort, an dem er im Alltag Freunde und Mitstreiter traf.

2014 wurde ihm der "Franco-Paselli-Friedenspreis" der Friedensschule im Bürgerhaus übergeben.

Er ist am 5. Juli 2018 gestorben.

Ludwig Baumann war als engagierter Bürger und Kämpfer für Menschenwürde ein Vorbild für viele Menschen.
Sein Engagement wurde besonders national und international wahrgenommen und durch vielfältige Ehrenbezeugungen gewürdigt.

Webseite ihm zu Ehren: ludwigbaumann.de
Mehr auch hier: Weser Kurier | Der Spiegel | WDR | taz | Wikipedia


Ansprache von Marita Rothe (Internationale Friedensschule Bremen)

Heute, am Antikriegstag 2022 - 63 Jahre nach dem deutschen Überfall auf Polen - können wir endlich den großen Saal im Gustav-Heinemann-Bürgerhaus offiziell nach Ludwig Baumann benennen; das Namensschild ist ja bereits am 13. Dezember 2021, seinem 100. Geburtstag, angebracht worden.

Mit dieser Namensgebung wollen wir seinen unermüdlichen Einsatz für den Frieden und eine gerechtere Weltordnung sowie sein langjähriges Engagement zur Rehabilitierung der Wehrmachtsdeserteure anerkennen und würdigen.

Ludwig Baumann lebte ab 1980 in Bremen-Nord, er war dem Bürgerhaus eng verbunden und hat dort an vielen Aktivitäten teilgenommen:

Beispielsweise an Workcamps der heutigen „Internationalen Friedensschule“ in Bremen und Marzabotto, deren Teilnehmer 1985 auf der Bahrsplate die Gedenkstätte "Rosen für die Opfer" schufen oder an der Aufstellung des Denkmals " Dem unbekannten Deserteur" im Foyer des Bürgerhauses 1986 durch die Gruppe "Reservisten verweigern sich"

Er beteiligte sich 1990 auch am 3-tägigen Gedenkmarsch zur Erinnerung an den später sogenannten Todesmarsch der KZ-Häftlinge Anfang April 1945 von Farge nach Sandbostel.

sowie 1995 an einer 5-tägigen Fahrradtour von Farge über Sandbostel nach Neuengamme und weiter bis zur Lübecker Bucht, wo wenige Tage vor Kriegsende zwei Schiffe von britischen Bombern versenkt wurden, auf denen sich etwa 7.500 KZ-Häftlinge befanden

Zudem besuchte er bis ins hohe Alter fast täglich das Bürgerhaus, traf hier Freunde und Mitstreiter

Als wichtige Person der Zeitgeschichte ist Ludwig Baumann in den letzten 30 Jahren vielfach geehrt worden, das Bundesverdienstkreuz hat er abgelehnt, weil er keinen Orden haben wollte, den auch ehemalige Nazis tragen.

Ludwig Baumann, der als 20-jähriger Marinegefreiter den Mut hatte zu desertieren, riskierte damit seine Freiheit und sein Leben. Er hatte keine politischen oder religiösen Gründe, er wollte keinen Menschen töten, aber auch nicht getötet werden, sondern einfach nur leben, wie er später sagte.

Wie ist er zu dem Entschluss gekommen, sich dem Kriegsdienst zu entziehen bzw. diesen zu „verweigern“, in einer Zeit, als es dieses Recht noch nicht gab? Beispiele für sein widerständiges Verhalten finden wir in seinem Lebenslauf.

Ludwig Baumann, geboren am 13.12.1921 in Hamburg als Sohn eines wohlhabenden Tabakgroßhändlers, hat es nicht leicht in seiner Kindheit:

Als Legastheniker kann er den Erwartungen seines Vaters, ein guter Schüler zu sein, nicht genügen. Wegen seiner schlechten Schulnoten wird er häufig bestraft, auf Geheiß des Vaters schlägt seine Mutter ihn mit dem Rohrstock.

Mit 14 Jahren verlässt er 1936 die Schule und beginnt eine Maurerlehre. 1 Jahr später stirbt seine Mutter durch einen Verkehrsunfall. Ihr Tod trifft ihn schwer, von da an wehrt er sich gegen den strengen und jähzornigen Vater.

In der Schule und auf der Arbeitsstelle wird Ludwig Baumann immer wieder zum Eintritt in die Hitler-Jugend aufgefordert, aber er widersteht dem Drängen.

Er möchte Tiefbau studieren und besteht das Vorsemester am Technikum Hamburg im Frühjahr 1940, danach muss er für 6 Monate den Reichsarbeitsdienst ableisten.

Zur Kriegsmarine wird er Anfang 1941 eingezogen. Schon in der Grundausbildung weigert er sich, die Stiefel und Koppel der Ausbilder zu putzen, diese schikanieren ihn mit Strafexerzieren, im Schlamm robben und Wache schieben.

Im Sommer 1941 wird Ludwig Baumann nach Bordeaux zur Hafenkompanie abkommandiert. Die Wochenschauen im dortigen Soldatenkino berichten regelmäßig über den im Juni des Jahres begonnenen Angriffskrieg gegen die Sowjetunion, in dem die deutsche Wehrmacht zunächst militärische Erfolge erzielt.

Über die schockierenden Bilder, die Hunderttausende leicht bekleidete sowjetische Kriegsgefangene, eingekesselt auf freiem Feld zeigen, spricht Ludwig Baumann mit seinem Freund Kurt Oldenburg, ebenfalls aus Hamburg. Sie fragen sich, was aus den Kriegsgefangenen wird, die dort in eisiger Kälte ausharren müssen?

Diesen Krieg, diese Verbrechen wollen sie nicht mitmachen und beginnen, die Flucht zu planen: Am 3. Juni 1942 versuchen sie mit Hilfe französischer Hafenarbeiter, in das unbesetzte Frankreich zu gelangen, ihr Ziel ist Amerika.

Nach ihrer missglückten Desertion erleben beide ein langes Martyrium, sie werden verhört, gefoltert und zum Tode verurteilt. 10 Monate verbringen sie in der Todeszelle und rechnen jeden Tag mit ihrer Hinrichtung. Erst 1943 erfahren sie von ihrer Begnadigung zu 12 Jahren Zuchthaus!

Vor Antritt dieser Strafe sollen sie sich zunächst als Soldaten würdig erweisen und werden nach einigen Wochen im KZ Esterwegen in das Wehrmachtsgefängnis Fort Zinna in Torgau überstellt. Hier verbringt Ludwig Baumann fast ein Jahr, da er an Diphterie erkrankt ist.

1944 kommt er zur sog. Bewährung in ein Strafbataillon an der Ostfront.

Anders als sein Freund Kurt Oldenburg überlebt er mit viel Glück als Verwundeter den Krieg in einem Lazarett im mährischen Brünn. Erst Weihnachten 1945 kehrt er als Vorbestrafter nach Hause zurück. Aber seine Leidenszeit ist nicht zu Ende: In seiner Familie gilt er als Feigling, ehemalige Soldaten beschimpfen ihn als "Vaterlandsverräter" oder "Dreckschwein". Wie viele traumatisierte Überlebende redet Ludwig Baumann mit niemandem über seine schrecklichen Erlebnisse, in dieser Zeit beginnt er zu trinken.

1947 stirbt sein Vater, 3 Jahre später ist sein Erbe aufgebraucht. Er arbeitet als Gardinenvertreter und lernt Anfang 1950 in Bremen seine spätere Frau Waltraud kennen. Ein weiterer Schicksalsschlag trifft ihn 1966: Seine Frau stirbt während der Geburt des sechsten Kindes - Ludwig Baumann ist jetzt alleine für seine Kinder verantwortlich.

Als Reaktion auf den Nato-Doppelbeschluss von 1979 entsteht Anfang der 80er Jahre die Friedensbewegung. Im Bonner Hofgarten demonstrieren 1981 etwa 300.000 Menschen gegen die Stationierung neuer Atomraketen in Mitteleuropa, der 60-jährige Ludwig Baumann gehört zu ihnen. Hier trifft er erstmals auf Menschen, die ihn verstehen und von da an beginnt er, seine Überzeugungen öffentlich kundzutun.

  • Beispielsweise mit selbst beschrifteten Pappschildern gegen Aufrüstung und Krieg, er nimmt an Mahnwachen teil und protestiert gegen die Ungerechtigkeit und Widersprüche einer Weltwirtschaft, die Menschen verhungern lässt und fordert ein Recht auf Nahrung.

  • Nach der Aufstellung des Deserteursdenkmals im Bürgerhaus Vegesack im Oktober 1986 kommt es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Gegnern und Befürwortern. In Leserbriefen und auf einer Beiratssitzung im Januar 1987 bekennt Ludwig Baumann sich erstmals öffentlich zu seiner Desertion.

  • Bis zur Aussetzung der Wehrpflicht in Friedenszeiten 2011 verteilt er auf dem Bremer Hauptbahnhof Broschüren zur Wehrdienstverweigerung.

  • Als Zeitzeuge besucht er gerne Schulen: so unterstützt er 2005 einen Geschichtskurs der Berufsbildenden Schulen in Osterholz-Scharmbeck, wo Schülerinnen und Schüler die Geschichte des erst 17-jährigen Deserteurs Kurt Albrecht recherchieren, der dort nur wenige Tage vor Kriegsende hingerichtet worden ist. Den Jugendlichen gelingt es, die städtischen Gremien zu überzeugen, einen Weg nach Kurt Albrecht zu benennen; an der Einweihung 2006 nimmt auch Ludwig Baumann teil.

  • Er ist Redner auf vielen Gedenkveranstaltungen, auch noch mit 94 Jahren bei der Einweihung 2015 des Denkmals für Deserteure und andere Opfer der NS-Militärjustiz in seiner Heimatstadt Hamburg. Der im Anschluss gezeigte Film von Annette Ortlieb vermittelt einen Eindruck von dieser Feier.

In den 80-er Jahren erkennt Ludwig Baumann, dass er zusammen mit anderen Opfern für die Rehabilitation der Wehrmachtsdeserteure kämpfen muss. Mit 36 überlebenden Deserteuren gründet er 1990 im Lidice-Haus die "Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz."

Auf deren 19 Jahre andauernden Kampf um die Aufhebung der NS-Urteile wird Günter Knebel von der Bundesvereinigung im folgenden Redebeitrag näher eingehen.

Ludwig Baumanns Beitrag zur Rehabilitierung der Opfer der NS-Militärjustiz

Ansprache anlässlich der öffentlichen Veranstaltung zur Benennung des großen Saals im Gustav-Heinemann-Bürgerhaus Bremen-Vegesack am 1. September 2022 im Ludwig-Baumann-Saal
(Manuskript von Günter Knebel)

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe friedensbewegte Mitstreiter/innen,
übermorgen, am 3. September 2022, wird es genau 80 Jahre und drei Monate her sein, dass Ludwig Baumann und sein Freund Kurt Oldenburg gemeinsam aus der Wehrmacht desertierten: Wir hörten eben schon von Marita Rothe, dass Ludwig und sein Freund Kurt den Krieg nicht mehr mitmachen wollten, der ihnen als Wehrpflichtige aufgezwungen worden war.

Ludwig Baumanns Kriegserlebnisse hatten den todgeweihten Wehrmachtdeserteur traumatisiert, in der Nachkriegszeit gespürte Ausgrenzungen und Anfeindungen trugen mit dazu bei, dass er erst Jahrzehnte später zu sich selbst zurückfand. Nach dem Tod seiner Frau 1966 hatte er als allein erziehender Vater von sechs Kindern auch kaum Zeit und Gelegenheit dafür gehabt, eigene Interessen zu entdecken und sich dafür und damit zugleich für die Interessen seiner Schicksalsgefährt*innen zu engagieren.

Im Zuge der heftigen Diskussionen um das Deserteurdenkmal, die das politische Bremen 1986 bewegten, hatte Ludwig sich aus dem Bundesarchiv seine eigene Akte besorgt – und sein Todesurteil gefunden, das am 30. Juni 1942 gegen ihn verhängt worden war.

Inhalt und Diktion der Nazi-Justiz, die seinen schlichten Freiheitsdrang und Lebenswillen in eine jahrelange Leidensgeschichte umgewandelt hatte, weckten seine Empörung, noch mehr aber die bis dahin unstrittige Tatsache, dass diese Urteile formaljuristisch immer noch Bestand hatten: Während viele Wehrmachtjuristen in der BRD bis in höchste Ämter Karriere gemacht hatten und üppige Pensionen genossen, galten seine Kameraden und er weiterhin als „vorbestraft“. Forderungen nach Entschädigung für Haft- und Verfolgungszeiten oder nach einer Rente waren vielfach ebenso zurückgewiesen worden, wie die schlichte Anrechnung der Dienstzeit von Wehrmachtdeserteuren als Soldat.

Ludwig benötigte keine wissenschaftlichen Arbeiten, um seiner neu aufgekommenen Empörung und seinem Drang sich diesem bestehenden Unrecht zu widersetzen, „Luft zu machen“. Seine eigenen diesbezüglichen Erfahrungen konnte er bei Treffen ergänzen und abgleichen, die das Dokumentations- und Informationszentrum (DIZ) Papenburg Ende der 80er Jahre veranstaltete. Aus den Unterlagen der früheren Emslandlager, der „Hölle im Moor“ in der zigtausende Opfer der Wehrmachtjustiz gelitten hatten, konnten hinreichend Namen und Anschriften ermittelt werden, um zu Treffen ehemaliger Häftlinge einzuladen, zu denen auch Ludwig gehörte.

Deshalb entstand im Mai 1990 die Initiative, „gemeinsam eine Interessenvertretung zu gründen und Wiedergutmachung zu erkämpfen“: „Wir wollen es nicht länger hinnehmen, daß wir Opfer kein Recht auf Anerkennung und Entschädigung haben,“ schrieb Ludwig Baumann „an alle Opfer der NS-Militärjustiz, Kriegsdienstverweigerer, Deserteure, Militärstrafgefangene, Wehrkraftzersetzer und Opfer der Militärpsychiatrie – und deren Hinterbliebene bzw. Angehörige.“ Insbesondere Frauen, die Opfern geholfen haben, wurden um Rückäußerung gebeten. Im Oktober 1990 wurde hier in Vegesack bzw. in St. Magnus im Lidice-Haus die Bundesvereinigung gegründet. Ludwig Baumann hatte 1 Mitstreiterin, Luise Röhrs, und 35 Mitstreiter gefunden, die neben weiteren Gästen präsent waren. Der bundesweite Zusammenschluss wurde ins Vereinsregister eingetragen und rasch als gemeinnütziger NS-Opferverband anerkannt.

Zwei Faktoren haben m.E. maßgeblich mit zur Gründung dieses selbstorganisierten, neuen NS-Opferverbands beigetragen: 1. Die engagierte Fürsprache von friedensbewegten Historikern und Juristen, namentlich Professor Dr. Manfred Messerschmidt (Freiburg) und 2. nicht zuletzt die Unterstützung vieler Akteure, die die gesellschaftliche Diskussion um Deserteurdenkmäler an zahlreichen Orten angestoßen hatten.

Mit der Gründung der Bundesvereinigung, zu deren Vorsitzenden Ludwig Baumann auch in der Folgezeit stets einmütig gewählt wurde, war das Thema öffentlich präsent und konnte auf unterschiedlichen Ebenen präsentiert und vermittelt werden. Von großer Bedeutung war, dass 1991 das Bundessozialgericht seine Rechtsprechung änderte und der Witwe eines Wehrmachtdeserteurs eine Rente zusprach. Das Urteil fand bemerkenswerte politische Resonanz und half mit, die neue Regelung von Härteleistungen nach dem Allgemeinen Kriegsfolgengesetz zu bündeln und durchzusetzen. Die kurz zuvor politisch mühsam erstrittene Zahlung von Härteleistungen für erlittenes Unrecht bis dahin ausgegrenzter NS-Opfer galt auch für die Opfer der NS-Militärjustiz. Sie war zwar weit entfernt von einer Rente nach dem Bundesentschädigungsgesetz, aber immerhin ein erstes Signal, den Anspruch auf Rehabilitierung der bis dahin verfemten NS-Opfer zu bekräftigen.

Der so authentische wie unermüdliche Einsatz Ludwig Baumanns im politischen Raum, der auch kirchliche Unterstützung einwarb, wurde 1995 durch ein Urteil des Bundesgerichtsgerichtshofs (BGH) unterstrichen. In einem selbstkritischen Rückblick auf seine eigene frühere Rechtsprechung beschrieb der BGH die Wehrmachtjustiz nun als „Terrorjustiz“ von „Blutrichtern“ - und legte dem Gesetzgeber nahe, deren Urteile aufzuheben. Eine Anhörung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages kam Ende November 1995 zu dem Ergebnis, an der Wehrmachtjustiz sei „nichts Rechtsstaatliches“ zu erkennen.

Am 15. Mai 1997 stellte der Deutsche Bundestag mit einer Entschließung klar, dass „der Zweite Weltkrieg ein Angriffs- und Vernichtungskrieg (war), ein vom nationalsozialistischen Deutschland verschuldetes Verbrechen.“ Die von der Wehrmachtjustiz wegen der Tatbestände Kriegsdienstverweigerung, Desertion/Fahnenflucht und Wehrkraftzersetzung verhängten Urteile seien unter Anlegung rechtsstaatlicher Maßstäbe Unrecht gewesen. Den Opfern und ihren Angehörigen bezeugte der Bundestag Achtung und Mitgefühl und räumte ihnen - auf befristeten Antrag - eine einmalige Leistung von 7.500 DM ein.

Getrübt wurde der Inhalt der Entschließung aber durch einen gravierenden Vorbehalt: Straftatbestände, die auch heute noch Unrecht wären, wurden ausgenommen und sollten - laut BMF - nicht entschädigt werden. Fahnenflüchtige und Deserteure mussten daher um Anerkennung und Entschädigung fürchten: Ludwig Baumann legte vernehmlich Protest dagegen ein. Dieser wurde zwar von Medien nachdrücklich aufgegriffen, prallte aber an den politischen Mehrheiten ab. Der - für die Betroffenen sehr wesentliche - Vorbehalt wurde auch mit dem Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege vom 25. August 1998 nicht beigelegt. Dieses Gesetz hob zwar sehr viele strafgerichtliche Entscheidungen des nationalsozialistischen Unrechtsregimes auf, aber Urteile wegen Fahnenflucht/Desertion wurden weder im Gesetz noch in dessen umfänglichen 59 Anlagen über „gesetzliche“ NS-Vorschriften explizit genannt. Das - an sich verdienstvolle - Gesetz, um verbliebenes NS-Unrecht in Gänze aufzuheben, ist deshalb von Ludwig Baumann, der die Verhandlungen um das Gesetz der CDU/CSU/FDP-Regierung sehr eingehend persönlich verfolgt hat, mit guten Gründen als unzureichend und halbherzig kritisiert worden: Er lehnte eine Rehabilitierung auf Antrag und per Einzelfallprüfung als unzumutbar ab, die wenigen überlebenden Opfer der NS-Militärjustiz könnten sie nur als beleidigend empfinden.

Die Bundestagswahl 1998 führte zu einer ersten Regierung von SPD und Grünen, womit Hoffnung auf eine baldige Nachbesserung aufkam. Sogar im Koalitionsvertrag der neuen Regierung war sie vereinbart. Aber im Bomben-Donner der NATO-„Luftschläge“ gegen Serbien unter deutscher Beteiligung schien dieses rechtliche Vorhaben Anfang 1999 rasch vergessen zu werden. Neue Schwerpunkte rot-grüner Regierungsarbeit trugen ebenfalls dazu bei, das angemahnte Thema nicht erneut auf die Agenda zu setzen. Nach umfänglichen Korrespondenzen, die Ludwig mit der neuen Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin geführt hatte, gelang es schließlich durch eine kongeniale Idee von Manfred Messerschmidt und Ludwig Baumann, eine früher auf Initiative der SPD entstandene Entschließung des Bundesrates als neuen Antrag in den Bundestag einzubringen: Die Fraktion der Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) entsprach 2001 Ludwigs Anregung und Bitte, sich den ehemaligen SPD-Antrag zu eigen zu machen, um die SPD-Fraktion in Zugzwang zu bringen. Daß der SPD-Fraktion ihre in der Oppositionszeit eigens erarbeitete Positionierung in dieser Angelegenheit inzwischen nicht mehr vertraut war, wurde daraufhin überzeugend belegt: Die federführende Rechtspolitikerin der größten Regierungspartei erkannte das zuvor eigene Anliegen gar nicht und wies es zunächst pauschal zurück. Nach späterem Erkenntniszugewinn hat sie sich dafür bei Ludwig entschuldigt. Ein Jahr später, am 17. Mai 2002, wurde das überfällige Gesetz zur Änderung des NS-Unrechtsaufhebungsgesetzes beschlossen, es trat am 24. Juli 2002 in Kraft. Seitdem sind auch die Deserteure der Wehrmacht eindeutig rehabilitiert. Ohne Ludwig Baumanns beharrliches Drängen und ohne seine so aufmerksame wie kritische Begleitung wäre 12 Jahre nach Gründung der Bundesvereinigung dieses Gesetz zur Anerkennung und Rehabilitierung der Wehrmachtdeserteure sicher nicht zustande gekommen.

Ähnliches gilt für die nachfolgende Behebung eines Rehabilitierungs-Defizits, auf das Ludwig vielfach in politischen Gesprächen wie auch in Anhörungen des Rechtsausschusses aufmerksam gemacht hatte: Zu den Mitgliedern der Bundesvereinigung zählen Angehörige, deren Väter wegen 'Kriegsverrat' verurteilt und bestraft worden waren. Dieser Straftatbestand wurde verwendet, um Delikte zu ahnden, die von der Wehrmachtjustiz als Landesverrat im Kriege betrachtet wurden. Die erste gesetzliche Nachbesserung des NS-Unrechtsaufhebungsgesetzes schloss diesen Straftatbestand 2002 explizit aus. Er galt als damals kaum bekannt, sei von geringer Zahl und „dem Kanzler nicht vermittelbar“ gewesen. Mit Hilfe des wissenschaftlichen Beirats der Bundesvereinigung konnte das im Nachgang dazu geändert werden. 2007 veröffentlichte Professor Dr. Wolfram Wette (Freiburg) eine Studie, die für alle Beteiligten den Handlungsbedarf überzeugend nachwies, auch Kriegsverräter zu rehabilitieren. Die politische Umsetzung dieses Ergebnisses dauerte aber exakt bis zum letzten Tag der 14. Wahlperiode: Am 9. September 2009 beschloss der Deutsche Bundestag einstimmig mit allen Fraktionen endlich auch die Anerkennung und Rehabilitierung der wegen Kriegsverrats verurteilten Opfer der NS-Militärjustiz.

Ludwig Baumanns beharrliches Insistieren hat sowohl erheblich zur wissenschaftlichen Untersuchung, als auch zu deren „Ankommen“ in der Politik geführt. Es war ihm eine große Freude, diesen „späten Triumph“ für sich und seine Opfergruppe miterleben zu können. Viele, für die er gestritten hat, haben ihre späte Anerkennung und Rehabilitierung leider nicht mehr erlebt.

Damit wurde Ludwig Baumanns Beitrag zur gesetzlichen Rehabilitierung der Opfer der NS-Militärjustiz kurz dargestellt. Ergänzungen und Hinweise zu seinem produktiven Wirken für die Erinnerungskultur wären möglich.

Schließen möchte ich mit einem Zitat von Gustav Heinemann, dem Namensgeber dieses Bürgerhauses. Anlässlich seiner Verabschiedung 1974 als Bundespräsident sagte Gustav Heinemann: „Wer heute nur für sich selbst sorgen will, verspielt mit der Zukunft anderer auch die eigene.“

Ludwig Baumanns Engagement für ‚seine NS-Opfergruppe‘ hat das Erinnern für die Zukunft gefördert, es war und es ist mehr als enkeltauglich.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit!

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Günter Knebel, 1. September 2022

Hinweise auf (eventuell gewünschte, ausgewählte) Literatur:

Andreas Scheulen, Ausgrenzung der Opfer – Eingrenzung der Täter, Berlin 2002 Mehr dazu...
Wolfram Wette, Deserteure der Wehrmacht rehabilitiert, Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (ZfG) 2004, S. 505-527 Mehr dazu...
Hannes Metzler, Ehrlos für immer? Wien 2007 Mehr dazu...
Detlef Vogel/Wolfram Wette, Das letzte Tabu, Berlin 2007 Mehr dazu...
Wolfram Wette/Joachim Perels (Hg.), Mit reinem Gewissen – Wehrmachtrichter und ihre Opfer, Berlin 2011 Mehr dazu...
Jan Korte/Dominic Heilig (Hg.), Kriegsverrat – Vergangenheitspolitik in Deutschland, Berlin 2012 Mehr dazu...
Ludwig Baumann, Niemals gegen das Gewissen, Freiburg 2014 Mehr dazu...

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